30 Jahre IT-BUSINESS Die nächsten 30 Jahre: Was bringt die Zukunft?
Wir schwimmen in einem Strudel aus rasanten, aber wundersamen technischen Entwicklungen, drohenden ökologischen Katastrophen und erschütternden sozialen Umwälzungen. Was tun, damit die nächsten 30 Jahre doch noch schön werden? Befragen wir ein Orakel!
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Kaum etwas hatte Krösus, der König Lydiens, im Jahr 550 vor Christus unversucht gelassen, um sich gegen den aufstrebenden Perserkönig Kyros II. zu wappnen. Bevor er schließlich seine militärische Offensive startete, befragte er zur Sicherheit nochmal das Orakel von Delphi nach dem Ausgang seines Feldzugs und erhielt die Prophezeiung: „Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.“ Toll, dachte sich da der König und marschierte mit seinem Heer frohen Mutes gegen die Perser. Ungünstig nur für ihn, dass es sich in dem Spruch um sein eigenes Reich gehandelt hatte! So berüchtigt, wie das Orakel von Delphi seitdem ist, so berechtigt ist das Leitmotiv, das dort am Eingang zum Apollon-Tempel stand: „Erkenne dich selbst!“ Nur wer sich selbst, seine Herkunft aus der Vergangenheit und seinen Platz in der Gegenwart genau kennt, weiß, was die stets ungewisse Zukunft bringen wird.
Um was geht die Zukunft?
Eines ist auf jeden Fall gewiss: Früher oder später werden wir sterben. Ich für meinen Teil werde das höchstwahrscheinlich schon in 22 Jahren tun. So lange habe ich nämlich noch durchschnittlich zu leben, geht es nach der Sterbetafel des Statistischen Bundesamts. Die IT-BUSINESS ist jetzt 30 Jahre alt. Nochmal so lange, und nicht wenige von uns werden das potenzielle 60-jährige Jubiläum gar nicht mehr miterleben. Einerseits ist das etwas unschön zu hören, andererseits schadet es aber nicht, es zu wissen. Denn geht es um die Zukunft, dann geht es weniger um die eigene, sondern eher um die Zukunft der anderen beziehungsweise derjenigen, die da noch kommen werden. Wenn wir uns über die eigene Endlichkeit klar werden, verschiebt sich die Perspektive auf die Zukunft: Was wollen wir (noch) erreichen? Warum wollen wir es? Ist das wirklich sinnvoll? Sollen wir wirklich so weitermachen wie bisher? Ist das moralisch empfehlenswert oder überhaupt vertretbar?
Was wollen wir wissen?
Was für einen Sinn ergibt es überhaupt, über die Zukunft in den nächsten 30 Jahren Bescheid zu wissen? Krösus ging in dieser Hinsicht schon mal mit schlechtem Beispiel voran. Er wollte unbedingt Bescheid wissen, stolperte aber schließlich über seinen ihm als König eingebauten Herrscher-Optimismus und seine mangelnde Selbstreflexion, um dann alternativlos voranzuschreiten. Hätte Krösus die „Die Kunst des Krieges“ von Sun Tsu gelesen, der damals ungefähr zur selben Zeit gelebt hatte, hätte er vor seinem Feldzug vielleicht nochmal nachgedacht. „Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten“, war damals schon von dem schlauen Chinesen zu lesen. Leider eben nur in China. Und leider nur für ein ganz auserwähltes Häuflein Gebildeter. Ein Smartphone, mit dem Krösus sich ein PDF aus der Private Cloud von Sun Tsu – automatisch und kostenlos übersetzt, versteht sich – hätte herunterladen können, wäre hilfreich gewesen!
Doch erst einmal mussten zweieinhalb tausend Jahre über die Erde ziehen, damit die Menschheit die technischen Voraussetzungen dafür schaffen konnte. Hätte der König der Lydier aber heute gelebt, wäre er vielleicht auch nicht viel klüger geworden. Sein Postfach wäre wahrscheinlich übergequollen: Er hätte vielleicht nicht die richtigen Informationen aus der Datenflut selektieren können. Und wenn, dann hätte auch er, wie die meisten von uns, Schwierigkeiten gehabt, daraus die richtigen Entscheidungen abzuleiten. Die Entwicklung von Big Data über Data Analytics hin zur Künstlichen Intelligenz (KI), die bei solch schwieriger Entscheidungsfindung hilfreich sein könnte, ist nämlich noch längst nicht abgeschlossen.
So stellt Katharina Weitz (in: Bauer, Deinzer; s. Kasten: Literatur), die an der Universität Augsburg über Künstliche Intelligenz forscht, fest, dass strategische Entscheidungen von Menschen immer unter Bezugnahme auf eigene Erfahrungen und den Kontext getroffen werden. „Um angemessen reagieren zu können, benötigt auch KI solche Informationen. Diese zu erfassen und auszuwerten, stellt bis heute noch eine große Herausforderung dar.“
KI: Vom Defizit-Kompensator zum Schrecken der Menschheit
Wie schnell sich KI in den nächsten 30 Jahren weiterentwickeln wird, zu welchem Zweck und in welchem Ausmaß sie eingesetzt werden soll, wird äußerst kontrovers diskutiert. Der Astrophysiker Stephen Hawking warnte schon 2014 vor einer wild gewordenen KI, die mit ihrem Erscheinen das Ende der Menschheit einläuten könnte. Wird eine KI klüger als die Menschheit, braucht sie diese nicht mehr, um sich weiterzuentwickeln, kann sie also abschaffen. Der Zeitpunkt, an dem dieses Ereignis auftritt, wird von Zukunftsforschern als „Singularität“ definiert – ein historischer Schritt über den Halys. Raymond Kurzweil, Futurist und Director of Engineering bei Google, schätzt den Eintritt der Singularität auf das Jahr 2045, also noch rund fünf Jahre vor Erscheinen der 60-jährigen Jubiläumsausgabe der IT-BUSINESS. In seinem 2005 erschienenen Buch „The Singularity is Near“ beschwört er die Notwendigkeit einer neuen Ethik.
Nicht minder kurzweilig und mit gedämpftem Optimismus blickt Martin Rees, ebenfalls Astrophysiker und Gründer des „Centre for the Study of Existential Risk“ an der Universität Cambridge, in die Zukunft. Seiner Schätzung nach wird artifizielle Intelligenz die menschliche in etwa ein- bis zweihundert Jahren überflügeln und so die posthumane Ära einleiten. Sein Beispiel: Vor vier Jahren lernte die KI „AlphaGo“ das als hochkompliziert geltende Spiel Go. Innerhalb eines Tages brachte sie es auf das Niveau von Weltmeistern. Allerdings, so Rees, benötigte die erforderliche Hardware Hunderte an Kilowatt Strom. Das Gehirn des koreanischen Herausforderers Lee Sedol verbraucht demgegenüber nur rund 30 Watt und beherrscht darüber hinaus noch ein paar Dinge mehr, als nur Go zu spielen.
Wichtig ist es, das Thema Nachhaltigkeit bei der Technologienutzung nicht aus den Augen zu verlieren und gleichzeitig Technologie im Dienste der Nachhaltigkeit einzusetzen.
Während die KI-Forschung noch hinter den selbstgesteckten Zielen zurückbleibt, insbesondere wenn es um die Entwicklung einer „starken KI“ mit einer autarken kognitiven Struktur geht, schreitet die Wissenschaft in der Optimierung des Menschen merklich voran. „Die Konvergenz von Medizintechnik, Informatik, Robotik und Materialwissenschaften hat in den vergangenen 20 Jahren zu einer explosionsartigen (Weiter-)Entwicklung“ medizintechnischer Hilfsmittel geführt, konstatieren Bertolt Meyer und Eno Park (in: Bauer, Deinzer). Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen künstlichen Prothesen und Technologien zur Selbstoptimierung zusehends. Der „Cyborg“ wird mehr und mehr zur alltäglichen Realität.
Beschleunigung des Fortschritts
Was haben wir damit gewonnen? Geht es um die Kompensation menschlicher Defizite, seien sie geistiger oder körperlicher Natur, liegt der Zweck auf der Hand. Die Ausweitung, das „Enhancement“ natürlicher Fähigkeiten, wirft allerdings Fragen nach dem Sinn dahinter auf. Aber haben wir noch die Zeit, uns diese Fragen überhaupt zu stellen? Eher nein, würde der Soziologe Hartmut Rosa (s. Kasten: Literatur) sagen und entwirft ein dystopisches Bild kultureller und struktureller Erstarrung als „Rückseite“ sozialer Beschleunigung. Technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die des Lebenstempos haben sich laut Rosa zu einem selbst verstärkenden Feedback-System zusammengetan, das sich selbst vorantreibt.
Im Sinne des systemtheoretischen Soziologen Niklas Luhmann wäre es damit immun gegen Steuerungsversuche von außen, etwa gegen ethisch motiviertes Eingreifen. Technologischer Fortschritt führt unter diesen Bedingungen der Selbstbeschleunigung gerade nicht zu einer Verbesserung der menschlichen Möglichkeiten, sondern, so Rosa, vielmehr zu einer Verminderung des eigenen Erlebens. „Dieselben Techniken, die uns dabei helfen, Zeit zu sparen, führen zu einer Explosion der Weltoptionen. Ganz egal, wie schnell wir werden, unser Anteil an der Welt, also das Verhältnis der realisierten Optionen und der gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir verpasst haben, wird nicht größer, sondern konstant kleiner.“
„Explodiert“ die Außenwelt, dann implodiert entsprechend die Innenwelt. Wie entkommen wir der fatalen Beschleunigung? Wie es auch Krösus angesichts des Orakels eventuell geholfen hätte, kurz anzuhalten, kann hier eine kurze Reflexion über die aktuelle Situation nicht schaden. Beschleunigung kann nur in der Zeit gedacht werden, als etwas zeitlich Determiniertes und gleichzeitig Determinierendes. Die Bedingungen ihrer Möglichkeit sind mithin Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die dynamisch ineinander verwoben sind: „Das Nichtsein des Seins, an dessen Stelle das Jetzt getreten ist, ist die Vergangenheit; das Sein des Nichtseins, was in der Gegenwart enthalten ist, ist die Zukunft“, lehrt der Philosoph G.W.F. Hegel (s. Kasten: Literatur) und folgert: „Die wahrhafte Gegenwart ist somit die Ewigkeit.“
Was können wir tun?
Damit bleiben uns im Prinzip nur die ungefähren drei Sekunden, die wir als Gegenwart erfahren. Gerade wenn sich alles auf diesen einen verschwommenen Zeitpunkt zusammenzieht, können und müssen wir dafür die Verantwortung übernehmen – und können gleichzeitig eine andere Zukunft mit anderen Möglichkeiten denken, als sie die Vergangenheit gesetzt hat. Dass es so nicht weitergehen kann, hat Harald Welzer (s. Kasten: Literatur) unlängst formuliert und nimmt dabei explizit die IT-Branche in die Verantwortung: Es sei ein „Versagen von Politik und Zivilgesellschaft“, die dortige „ungeheure Anhäufung von Geld und Macht“ zugelassen zu haben, kritisiert er, „obwohl die Zukunftsversprechen der Digitalwirtschaft – Raketen! Künstliche Intelligenz! Pizzaservice! – alle so aussehen, als wären sie 1950 festgefroren. Und nur gelten, solange Strom da ist.“ Und es geht auch anders. Bloß nicht so wie bisher.
Die Corona-Pandemie markierte auch den Startpunkt der globalen Nachhaltigkeitsära.
Gleich wie Krösus vor zweieinhalb tausend Jahren als Einzelner steht die Menschheit heute als Gemeinschaft an einem Scheideweg. Wie er damals ein riesiges Heer mit hoch ausgebildeten Kriegern besaß, verfügen wir heute über ein immenses Arsenal erstaunlichster technologischer Entwicklungen (s. Kasten), von denen viele das Zeug haben, den gesamten Erdball in helle Aufregung zu versetzen. Das Problem, das gleichzeitig auch eine ungeheuer große Verantwortung für diejenigen mit sich bringt, die über die weiteren Entwicklungsschritte entscheiden, ist die Reichweite und der immense Einfluss heutiger Technologien auf die Menschheit qua Vernetzung und Konsumverhalten. Wir können denen, die nach uns folgen, mit Leichtigkeit einen ausgelaugten, verwüsteten Planeten hinterlassen, oder wir können, wie Martin Rees es sieht, die Weichen für ein Weiterleben interplanetarischer Intelligenz stellen. Nur müssen wir dazu heute die richtigen Fragen stellen. Dabei geht es gerade nicht darum, Entscheidungen zu „fällen“, wie von Krösus gelernt, sondern darum, anderen Menschen Entscheidungen erst zu ermöglichen.
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